Umfassende Bildung ist die Grundlage für späteren Erfolg im Leben. Und doch sind gerade beim Thema Bildung noch immer sehr viele Fragen offen. Eine davon – vielleicht eine der wichtigsten – ist die nach dem richtigen Zeitpunkt, an dem die Bildung beginnt.
Der Erfolg von Bildung wird meist an kognitiven Fähigkeiten gemessen, also daran, wie gut die Kinder Schreiben, Lesen und Rechnen können. Diese Fähigkeiten werden typischerweise in der Schule vermittelt und haben, wie aus einer OECD-Studie aus dem Jahr 2010 hervorgeht, nicht nur Einfluss auf die Erfolge im Leben eines Menschen, sondern auch auf die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt.
Wie hoch dieser ausfallen kann, zeigt eine Beispielrechnung, die sich für die Schweiz aus den OECD-Daten ableiten lässt: Wenn es gelänge, die Leistungen der schwächsten Schüler im PISA-Test anzuheben – hierzulande liegen rund 13 Prozent der Schülerinnen und Schüler unter dem Grenzwert von 400 PISA-Punkten (Stand 2012) – könnte das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren um über 800 Milliarden Franken wachsen.
Dass es sich hier nicht um reine Modellrechnungen handelt, deutet eine bekannte Langzeitstudie zum Thema aus den USA an: das so genannte «Perry Preschool Program», an dem in den 1960er-Jahren 123 afroamerikanische Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren teilnahmen. Die Kinder galten als so genannte Risikokinder: Sie hatten einen IQ von unter 85 und stammten aus armen Verhältnissen.
Die Hälfte der Kinder wurde täglich während fünf Wochentagen zweieinhalb Stunden lang durch geschulte Pädagoginnen gefördert, dazu kamen noch regelmässige Besuche zu Hause. Die Kontrollgruppe erhielt keine Förderung. Der weitere Lebensweg dieser Kinder wurde von den Forschern über 40 Jahre hinweg beobachtet.
Die Resultate waren deutlich: Aus der Fördergruppe erreichten weitaus mehr Kinder einen Highschool-Abschluss als aus der nichtgeförderten Kontrollgruppe (71 versus 54 Prozent). Jeder im Perry Preschool Program investierte Dollar löste somit gemäss konservativen Schätzungen einen gesellschaftlichen Ertrag von sieben Dollar aus, und zwar in Form von weniger Kriminalität, weniger Sozialhilfeausgaben und höheren individuellen Einkommen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Langzeitstudie in Jamaika.
Doch es sind nicht die kognitiven Fähigkeiten allein, die Wachstum und Wohlfahrt fördern. Viele empirische Befunde zeigen, dass motivationale «Fähigkeiten», wie Aufmerksamkeit, Geduld, Zielstrebigkeit und Hilfsbereitschaft, die gemessenen Resultate in kognitiven Tests deutlich beeinflussen können. Sie werden zwar in Schulen nur indirekt und nicht in eigenen Fächern trainiert, doch sie haben einen direkten positiven Einfluss auf viele für die individuelle Wohlfahrt relevante Aspekte im Erwachsenenalter.
Die Wirkung motivationaler Fähigkeiten
So wissen wir zum Beispiel, dass hohe motivationale Fähigkeiten, die schon im frühen Kindesalter erworben werden, tendenziell zu höherer Schulbildung und damit auch zu höherem Einkommen führen. Oder sie sorgen dafür, dass Menschen eher Sport treiben, weniger Rauchen und seltener an Übergewicht leiden.
Doch vor allem können sie helfen, den existierenden Teufelskreis der sozialen Vererbung niedrigen Einkommens und geringer Bildung zu durchbrechen. Auch das kann aus dem Perry Preschool Program abgelesen werden. Der gemessene IQ der geförderten Kinder stieg zwar während ihrer Zeit im Programm auf 95, senkte sich jedoch danach wieder aufs Niveau der Kontrollgruppe. Trotzdem erzielten die Kinder später im Leben nachweislich grössere Erfolge. Es war also offensichtlich gelungen, durch emotionale Förderung die motivationalen Fähigkeiten signifikant und dauerhaft zu erhöhen.
Wie wir heute aus mehreren Studien – darunter auch einige am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich – wissen, hat die Aktivität in bestimmten Hirnregionen einen ursächlichen Einfluss auf bestimmte motivationale Fähigkeiten. Wenn die Aktivität des Gehirns in diesen Regionen niedriger ist, verhalten sich Probanden etwa messbar ungeduldiger, impulsiver, riskanter und egoistischer.
Man kann also vermuten, dass die Vermittlung motivationaler Fähigkeiten untrennbar mit dem Trainieren bestimmter neuronaler Netzwerke verknüpft ist. Dies dürfte auch der Grund sein, warum motivationale Fähigkeiten vor allem im jungen Kindesalter erworben werden und sich danach eher schwer ändern lassen. Die Plastizität des Gehirns ist bei Kindern eben noch stärker ausgeprägt.
Frühkindliche Bildung zahlt sich aus
Auch wenn auf diesem Gebiet noch viele offene wissenschaftliche Fragen auf ihre Klärung warten, lässt sich schon jetzt ein vorläufiges Fazit ziehen: Eine geeignete frühkindliche Betreuung ist für die Herausbildung kognitiver und motivationaler Fähigkeiten von grosser Bedeutung.
Um dieses Potenzial auszuschöpfen, lohnt es sich für die Gesellschaft als Ganzes mehr in frühkindliche Betreuungseinrichtungen zu investieren, damit diese auch bildungsferneren und ärmeren Schichten offenstehen. Gleichzeitig sollte man hier aber auch mit einer gewissen Behutsamkeit und Sorgfalt vorgehen und die besten Massnahmen durch vorgängige wissenschaftliche Feldstudien identifizieren, damit man nicht im Nachhinein Enttäuschungen erlebt.
Nicht jede in den USA durchgeführte Massnahme lässt sich ohne weiteres auf die Schweiz übertragen. Deshalb ist es notwendig, solche Studien auch in der Schweiz verstärkt durchzuführen, um solide empirische Grundlagen zur frühkindlichen Förderung von Kindern zu erarbeiten. Denn was gibt es Wichtigeres für eine Gesellschaft als die Zukunft ihrer Kinder?